19.11.06

Protokoll zur dritten Sitzung

Thema der letzten Sitzung ist im Seminarplan mit ,Faktenrecherche im Netz und in den Printmedien’ angegeben. Wir sammelten Informationen zu Autoren, Titeln und Sachbegriffen, von denen wir annahmen, dass sie wegen ihrer Herkunft (Kultur, Literatur, Sachbuchautoren des 19. Jahrhunderts bzw. amerikanische Folksongs, Popartisten, ästhetische Begriffe der popular culture) in unterschiedlicher Weise in den zwei Systemen vertreten sind. Dieses Vorurteil bestätigte sich, wenn auch in asymmetrischer Weise. Während zu vier der fünf deutschsprachigen Sachbuchautoren des 19. Jahrhunderts wenigstens knappe Angaben im Netz zu finden sind, schweigen sich - jedenfalls unserer Recherche nach - die Printmedien auch zu einigen der Folkssongs oder zu den Begriffen der popular culture aus. Was ,A and R-Men' sind, findet man nicht bei Wikipedia, sondern nur in der gedruckten St. James Enzyklopedia of popular Culture.
Trotzdem entwickelte sich die Stunde zu einer Wikipedia-Befragung. Was ja auch nicht schlimm war, denn einmal musste das ja mal sein - angesichts der Symbolkraft, die Wikipedia für das Thema ‚Wissen im Netz’ darstellt.
Ausgangspunkt der Seminardiskussionen war der Wikipedia-Artikel zu ,Old Kentucky Horne’. Wir sahen, dass in dem Text voraussetzungsfreies und voraussetzungsvolles Wissen nebeneinander arrangiert ist. Während die Angaben zum Verfasser und zum Gebrauch als Nationalhymne wie als Song in den Minstrel Shows eine historische Einordnung erlauben und Bedeutung und Rezeptionsgeschichte ansatzweise klären, ermöglicht die Angabe zu den näheren Umstände der Entstehung keine Anwendung des angegeben Wissens. Dem Leser, jedenfalls dem deutschen, und an Spezialfragen nicht interessierten Leser, bleiben die Informationen zum Besuch Forsters ein irgendwo/ nirgendwo. Und wir erkannten, dass Information und Wissen erst dann zu Kenntnis sich verwandelt, wenn sie in ein Umfeld eingeordnet werden können.
Problematisch erwiesen sich auch die Angaben zur Verwendung des Songs, „in rassistischen Minstrel Shows“. Vor allem der Hinweis auf das mögliche ambivalente Verständnis des Songs als "Sympathiebekundung gegenüber den afroamerikanischen Sklaven" oder als "rassistische Beschreibung der Schein-Idylle der Sklaverei" befriedigte uns nicht. Nicht nur, dass er im Grunde nur eine Wiederholung dessen ist, was allgemein für die Minstrel Shows gilt (vgl. den Artikel Minstrel Show in der St. James Enzyklopedia:,of popular Culture). Wichtiger erschien uns, dass die sich vorsichtig, abwägend, sich reflektierend gebenden Passagen im Text des Liedes keinen Nachhall finden. Denn bemerkenswerter als die pro- oder contra achtungsvolle Humanität des Liedes ist seine Vagheit, seine Detailarmut. Man kann noch nicht einmal von Klischeehaftigkeit sprechen, denn um ein Klischee wiederzugeben, fehlt es dem Lied ebenfalls an Konkretion. Und es scheint mir eher der Vorwurf zutreffend zu sein, dass der Verfasser nur einen oberflächlichen Blick auf die Alltagsszenerie (nicht wie es bei Wikipedia heißt Szene) wirft, einen Blick, der vielleicht gerade sich bemüht weder pro noch contra Abolition zu sein.
Sicher kann man sagen, dass solch ein oberflächlicher Blick auch schon rassistisch ist, aber er ist es in anderer Weise, als ein direkt die Situation in Kentucky als ,Ort Gottes' verstehende Sicht es wäre. Insoweit gilt auch die Bemerkung „Da diese Interpretationsfragen nie mit Sicherheit zu klären waren, beschloss 1986 die Generalversammlung Kentucky das Lied zu entschärfen, indem man das Wort "darkies" durch "People" ersetzte. Dieser Satz vermischt in unzulässiger Weise ein Faktum - die Entschärfung des Liedes durch den Senat von Kentucky - mit einer Konjektur, dass dies wegen dieser Interpretationsfrage geschah. Konjekturen aber müssen in wissenschaftlichen Texten als solche erkennbar gemacht werden, was hier nicht der Fall ist. Problematisch ist dies vor allem, weil der Artikel durch diese Bemerkung ein Wissen in eine Erfahrung ummünzt. Und damit aus einer Kenntnis, also einordbares Wissen, eine Kenntnis für uns macht, denn das ist im Kern die Bedeutung von Erfahrung. Während Erfahrung immer bezogen ist auf jemanden der etwas erfährt, ist Kenntnis abstrakt, ein Wissensglied in einer Kette von Informationen. Und da wir derzeit in einer an Fragen von political correctness sih orientierenden Kultur leben, will der Artikel damit eine, seine Erfahrung vermitteln, genauer: suggerieren.
Mit dieser Interpretation des Artikels hatten wir nicht nur die Begriffe Information, Wissen, Erfahrung ein wenig geklärt und in ein System gebracht, wir hatten auch schon ein wenig vorgearbeitet; um Aufbau und Sprache der Wikipedia-Artikel beschreiben und verstehen zu können. Denn bei der Lektüre anderer Artikel, z. B. dem über ,Sache’ beobachteten wir den disparaten Aufbau der Einträge in der Netz-Enzyklopädie und den disparaten Sprachstil. Der Artikel mischt nicht nur verschiedene Wissenschaftsperspektiven, sondern auch unterschiedliche Sprachniveaus, da er von verschiedenen Verfassern angelegt ist. Während gedruckte Enzyklopädien durch die kontrollierende Redaktion sicherstellen, dass alle Beiträge nach vorgegebenen Mustern, in einer annähernd gleichen Sprache verfasst werden, verzichtet das Netz-Lexikon auf eine solche Kontrolle, ja markiert noch nicht einmal die Tatsache, wo in einem Artikel ein neuer Bearbeiter seine Spuren hinterlassen hat.
Ähnliches beobachteten wir auch bei der Lemmata-Auswahl. Während das gedruckte Universal-Lexikon bei aller Bandbreite sich auf einen Kanon, wenn auch auf einen Kanon der verschiedene Wissensgebiete berücksichtigt, stützt (dies im Unterschied zu Spezial-Lexika und Handbücher), kennt die Netz-Enzyklopädie keinen solchen Kanon. Einzelheiten im strengen Sinn, also individuelle Phänomene, stehen neben generalisiert aufgefassten Begriffen. Das Bad ‚xyz’ neben dem der Institution Badeort.
Bei alledem unterstrichen wir die Neutralität unserer Beobachtungen. Aus ihnen lässt sich kein ,besser' oder ,schlechter' ableiten, nur ein ,anders' feststellen. Dieses Anders-Sein fassten wir wenig originell aus der Perspektive des Netzes als Wildheit, als Ungebärdigkeit und sahen darin seine Nähe zum Populären begründet, gegenüber dem Geordneten zu Recht Gestutzten des Druckmediums, das seine Nähe und Herkunft aus der Hochkultur ebenfalls nicht verleugnen kann.

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