19.11.06

Protokoll zur zweiten Sitzung

Das Thema der zweiten Sitzung ist im Seminarplan mit ‚Mainstream im Netz und in Printmedien’ angegeben. Es ging uns also sowohl um die Bedeutung des Begriffs ‚Mainstream’ als auch um seine vielleicht differente Fassung in den beiden Informationssystemen. Zu Beginn sammelten wir auf Zuruf Beispiele (Namen und Titel) für ‚Mainstream’. Wir erzielten eine beeindruckende Übereinstimmung: Von 49 Nennungen wurden nur sechs bezweifelt und da in der Diskussion noch zwei der Einwände (Brad Pitt und Angelina Jolie) zurückgewiesen werden konnte - ein dritter (Keith Haring) blieb strittig, ergab sich eine mehr als 90-prozentige Übereinstimmung. Merkwürdigerweise findet diese Zuordnungsmöglichkeit, d. h. die Ordnungs- und Subsumierungsqualität des Begriffs keine Entsprechung bei den im Printmedium sich materialisierenden Kulturwissenschaften. Allein Geist/ Nachbar nutzten ihn 1983 als Zentralbegriff für eine Theorie populärer Kultur: "In the simplest terms, popular culture is best thought of as Mainstream culture - the arts, artifacts, entertainments, fads, beliefs and values shared by large segments ofthe society" oder : "In general, however thedefinition of popular culture as Mainstream or mass culture is a useful one for the serious study of what popular culture means to people." (QUELLE)
Geist/ Nachbar heben also nicht einfach auf die große Zahl ab, sondern auf eine irgendwie (nicht näher bestimmte) kulturelle sich verfestigte Zahl, auf "segments ofthe society". Man darf sicher dabei an etwas Anderes, Festeres als die, nur in Befragungskonstruktionen existierenden Sinus-Milieus denken, aber sicher auch an Flüssigeres als die klassischen Schichten-Einteilungen, die sich an Berufsgruppen oder Einkommensklassen entlang bilden lassen. Vielleicht hatten Geist/ Nachbar 1983 ja schon so etwas wie kulturelle Allianzen oder Plateaus im Auge, also gedachte Orte, an denen Gleichgesinnte zusammen agieren können; in jedem Fall aber rückt ,Mainstream’, so als kultursoziologische Kategorie verstanden, die zentrale Bedeutung der Rezipienten für die populärer Kultur in den Vordergrund. Von wem?, Für wen?: das sind die ersten Fragen, Wie? und Was?: die zweiten - dass muss sich auch eine das ästhetische betonende Kulturwissenschaft sagen lassen.
Bezeichnenderweise wird in Deutschland ‚Mainstream’ eher als Stilbegriff verstanden. Wicke definiert ‚Mainstream’ als Begriff für einen Stil, der „sich musikalisch zwischen seinen Extremen“, hier am Beispiel von Jazz, den Extremen von Tradition und Avantgarde bewegt. Dieses stilistische Zwischen-Sein des Mainstreams erklärt sich zunächst als Notwendigkeit der Kunstsparte. Musik hat mehr als jede andere populäre Kunstsparte eine Fülle von mehr oder weniger klar definierten, jedenfalls im Gebrauch, den Markt steuernden Stilbegriffen hervor gebracht. Innerhalb dieses Marktsystems fungiert dann ‚Mainstream’ als Bezeichnung für den jeweiligen Kern.
Aber und damit kommt die negative Bedeutung des Begriffs ins Spiel, die von Kulturkritikern wie Kulturbegeisterten gebraucht wird, eine Mitte, die zugleich als Mitte unentschieden ist, über keine
Akzentsetzungen verfügt und daher steril, entwicklungslos ist. Mit diesem ästhetisch-künstlerischen Verdikt kombiniert die Kulturkritik die Marktabhängigkeit, die allem Populären von Geburt an eingegeben ist und definiert ‚Mainstream’ dann als den Bereich der sicheren Profit verheißt, aber keine ästhetische Innovation besitzt.
Das Ideal des Populären wird in dieser Sicht diametral anders als Geist/ Nachbar es vorschlagen in der Nische, in der Subkultur, im kleinen Kreis des Authentischen gesehen. Wird in dieser Perspektive der Mainstream zum Ort der Unkultur, wird in kulturpolitischer Sicht Mainstream gerade zu einem Wunschort. In beiden Fällen geht die Bedeutung von Mainstream, als dem von der Mehrheit anerkannten Ort aus: In den Worten der Tochter von Ulrike Meinhof ist "der Mainstream die fette Sau, zu der alle streben." Oder feiner ausgedrückt: Mainstream wird dann der Ort an dem es keine Minderheit mehr gibt, der Ort, an dem die Minderheit ihren Platz in der Mehrheit gefunden hat. Wie es in dem Wunsch von Han-Rou(QUELLE) sich formuliert, der aus dem Ghetto der asiatischen Kunst hinaus möchte und für seine Kunst eine Mainstream-Haus, ein großes Museum sich wünscht, dass eben nicht ‚asiatische’ Kunst sondern ‚nur’ Kunst bietet. Mainstream also als Begriff der die Integrationskraft des Populären, seine Mehrdeutigkeit und Auslegungsfähigkeit, seine Stabilität wie Beweglichkeit formuliert. Im Mainstream der Minderheit wird dieses Denk-Muster, die Minderheit, die als Minderheit zugleich mehrheitsfähig ist aber doch Minderheit bleibt aber sich nicht extrem formuliert, also vor- und bloßgestellt.
Von diesem dialektischen Denkmuster rücken Rupert Weinzierl und Dietrich Diederichsen, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ab. Weinzierl versteht unter Mainstream: „eine normalisierende, tendenziell monokulturelle Form der Warenproduktion für das Massenpublikum“ (QUELLE). Im Seminar diskutierten und bezweifelten wir letztlich das Epitheton ,normalisiert' . Nicht zuletzt aus allgemeinen theoretischen Erwägungen, die die Rezeptions-, die Deutungsmacht des Lesers herausstellt. Diederichsen bringt in dem Interview mit fluter.de einen neuen Aspekt ins Spiel. Er fragt nach der Selbstbewusstheit der verschiedenen kulturellen Strömungen, bzw. nach der von ihren Verfechtern und Teilnehmern realisierten Fähigkeit zu Selbstreferenzrealität. Dabei hält er - wie stets dogmatisch - fest: "Mainstream hat kein Bewusstsein von sich selbst. Niemand, das kann man als Kriterium der allgemeinen Individualisierung nehmen, niemand sagt von sich, dass er Mainstream ist." Abgesehen davon, dass Diederichsen im Februar 2003 noch nicht die Heimat-Welle der Jahre der 2005/06 mit ihrer Wiederentdeckung der Lust am Kollektiven wahrnehmen konnte, bleibt sein Diktum auch sonst fragwürdig. Nicht nur, dass Selbstreferenzrealität und Mainstream sich nicht ausschließen, wie etwa die ironische Verwendung des Schlagers à la Guildo Horn erweist.

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